Würfelhaus

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Aus der Fläche in den Raum

Zunächst wurde der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Begriffen Projektion und Perspektive thematisiert, die eben nicht bedeutungsgleich sind. Projektionen sind auf bestimmte Aspekte fokussierte ebene Modelle, denen man Maße (z.B. Längen und/oder Winkel) für die räumliche Wirklichkeit entnehmen kann, wogegen Perspektive bedeutet, ein flächiges Abbild der räumlichen Wirklichkeit zu schaffen. Somit sind die Begriffe Aufrissschrägbild statt Kavalierperspektive, Grundrissschrägbild statt Militärperspektive und das sogenannte Raumachsenschrägbild, die Isometrie meiner Meinung nach zutreffender.
Das Konstruktionsprinzip der Perspektive ist nicht von den Künstlern der Renaissance erfunden, sondern es ist eher durch genaues Beobachten gefunden worden; man könnte auch sagen wiederentdeckt. FILIPPO BRUNELLESCHI (1377 – 1446), der als „Vater der Perspektive“ bezeichnet wird, griff zwar auf das Wissen des EUKLID (um 300 v.Chr., Schriften über die Optik) und VITRUV (1. Jahrhundert v.Chr.; römischer Baumeister, schuf zehn Bücher über die Architektur) zurück. Dennoch ist es sein Verdienst, die erste exakte geometrische Lösung für einen perspektivischen Bildaufbau gefunden zu haben, und gilt damit zurecht als Begründer der mathematisch berechneten Perspektivkonstruktion. Diese Aufzählung wäre unvollständig, würde man nicht auch den florentinischen Architekten und Theoretiker LEON BATTISTA ALBERTI (1404 –1472) und den umbrischen Maler PIERO DELLA FRANCESCA (1410/20 – 1492) nennen. Jedoch war es LEONARDO DA VINCI, der die umfassendste Perspektivtheorie, die sich auf mathematische Berechnungen, optische Kenntnisse und geometrische Konstruktionsverfahren stützt, verfasste. In Deutschland griff ALBRECHT DÜRER dieses u.a. auf seinen Italien-Reisen erworbene Wissen auf und baute die ersten Zeichenmaschinen, um die Entwicklung der perspektivischen Darstellungen zu veranschaulichen. Man schreibt es dem florentinischen Maler MASACCIO (1401 – 1428) zu, das erste (erhaltene) Bild, das konsequent zentralperspektivisch konstruiert worden ist, geschaffen zu haben. Es handelt sich um das Fresco „Die Heilige Dreifaltigkeit“ (zwischen 1425 und 1428) in der Kapella Santa Maria Novella. Dieses Werk schuf ein epochales Seherlebnis, eine noch nie dagewesene Raumillusion, die von der Wirkung her vergleichbar gewesen sein muss mit den Möglichkeiten heutiger VR-Brillen und anderer virtueller Seherlebnisse: ein ganz neues, „überirdisches“ Sehen, geradezu „göttlich“. Ohne sich in detaillierte Konstruktionsbeschreibungen zu verlieren, lässt sich das Prinzip der perspektivischen Konstruktion wie folgt zusammenfassen: Auf der Horizontlinie, die der Augenhöhe des Betrachters entspricht, liegt der oder liegen die Fluchtpunkt(e); alle Linien, die in die Tiefe führen, die sog. Tiefenlinien oder Fluchtlinien, laufen („fluchten“) auf den oder auf einen der Fluchtpunkt(e) zu. Die Lage der Horizontlinie in Bezug auf das Gesamtbild legt fest, ob es sich um eine Frosch-, eine Normal- oder eine Vogelperspektive handelt – je nachdem ob sich der Horizont im unteren, mittleren oder oberen Drittel befindet. Deutlich muss der Begriff der Ansicht hiervon unterschieden werden. So kann z.B. eine Streichholzschachtel in einer Auf-, Normal- oder Untersicht dargestellt werden. Auch kann eine Schachtel mit Aufsicht in einem Bild, das in Froschperspektive dargestellt ist, vorkommen oder auch eine mit Untersicht in einem in Vogelperspektive. Die Begriffe Ansicht und Perspektive sind keineswegs synonym.

Auf die Theorie folgt der Einstieg in eine praktische, flächige Aufgabe, bei der die perspektivische Konstruktion der Übereckperspektive mit zwei Fluchtpunkten zur Anwendung kommt, um die räumliche Vorstellungskraft für ein Davor und Dahinter bzw. ein Vor- bzw. Zurückspringen von Bauelementen zu schärfen. Es ist nicht nur ein Quader, sondern dieser soll mit deutlichen additiven und subtraktiven Elementen versehen werden. Der Teufel liegt wie immer im Detail, dennoch stellt sich der Kurs dieser flächigen Aufgabe ohne zu murren. Die Ergebnisse zeugen von einer begeisterten und intensiven Arbeitshaltung.

Um die Schülerinnen und Schüler auch noch auf den letzten Schritt hin zur eigentlichen räumlichen Aufgabe vorzubereiten, nämlich einer „Bauskulptur“, schickte ich sie in eine Internetrecherche. Die Dimensionen plastischen Gestaltens, die als Form- und Raumaspekte von Bedeutung sind, lassen sich auch auf Architektur übertragen, wenn man diese als „Bauplastiken“ bzw. „Bauskulpturen“ versteht: Höhlung und Wölbung, Statik, Schichtung, Raumachsen, Tektonik, Bewegung, Rhythmik, Dynamik und Spannung sind nur einige dieser Dimensionen.

Am Anfang steht eine nüchterne Einführung in die Handhabung von Cutter, Stahllineal, Schneidematte und Kleber, bei der vier Grundelemente geübt werden müssen: 1) ein Quadrat mit der Kantenlänge von 10cm ausschneiden, 2) darauf zwei beliebige Rechteckte auf Stoß, 3) ein weiteres Kante auf Fläche kleben – jeweils rechtwinklig, 4) zuletzt über zwei Rechtecke ein weiteres Rechteck als horizontales Dach legen. Nach dieser Übung im „Nichtschwimmerbecken“ dürfen die Schülerinnen und Schüler mit den eigentlichen „Bauskulpturen“ loslegen …

Alle Dämme brechen … Als wenn für die Schülerinnen und Schüler die flächige Übereckkonstruktion sowie die Internetrecherche nach „Plastik-Architektur-Paaren“ ein Arbeiten mit angezogener Handbremse gewesen ist, sind sie nun beim räumlichen Arbeiten mit einer unglaublichen Leidenschaft und Intensität dabei, die in den Ergebnissen offentlicht wird.

Es ist Dezember, Mitte Dezember 2020 und die Schulschließungen drohen erneut. Ein Arbeitsprozess, von Energie und Begeisterung getragen, wird am Ende der Vorarbeiten abrupt heruntergebremst. Vollständig? Nein! Ein von unbeugsamen Schülerinnen und Schülern bevölkerter Kunstkurs hört nicht auf, dem Lockdown Widerstand zu leisten. Konspirativ verabredet er sich wie zum Dealen von Drogen an einer Bushaltestelle im Umfeld der Schule: High Noon einmal anders. Zehn Minuten später sind 22 gepackte Versandtaschen mit einem ausreichenden Vorrat an Materialien (Finnpappe, Graupappe und Fensterfolie) „über den Tresen gegangen“.
Was mir die Schülerinnen und Schüler Mitte Januar 2021, als der Abiturjahrgang wieder in die Schule kommen darf, präsentieren, verschlägt mir den Atem … Vielleicht ist die Lehre aus diesem, für die Abiturienten zum Glück nur kurzen Lockdown, dass künstlerisches, praktisches Arbeiten einfach längere, zusammenhängende Abschnitte benötigt, die im Unterrichtsalltag nur schwer realisiert werden können.

Jens Hayen · Kunst und Mathematik